EINUNDDREISSIG

Zuerst steht sie einfach nur da, die grünen Augen sind groß und voller Ungläubigkeit. Dann hebt sie das Kinn und zeigt die Zähne. Doch noch ehe sie angreifen kann, stürze ich mich auf sie. Entschlossen, sie zuerst zu erwischen, sie zu Boden zu strecken, solange ich kann. Doch plötzlich sehe ich einen schimmernden Schleier aus sanftem, goldenem Licht, einen hellen Kreis ein kleines Stück seitlich von uns, der leuchtet und lockt, wie der in meinem Traum. Und auch wenn Drina mir diese Träume in den Kopf gepflanzt hat, auch wenn das wahrscheinlich eine Falle ist, kann ich nicht anders - ich schwenke ab und laufe darauf zu.

Ich falle durch einen strahlenden Dunst, einen Schauer aus Licht, so voller Liebe, so warm, so intensiv, dass es meine Nerven zur Ruhe bringt und alle meine Ängste vertreibt. Und als ich auf einer Wiese mit leuchtend grünem Gras lande, fangen die Halme mich auf, tragen mich und dämpfen meinen Fall.

Ich betrachte die Wese um mich herum; die Blumen haben Blütenblätter, die von innen erleuchtet zu sein scheinen, umgeben von Bäumen, die weit in den Himmel hinaufreichen und deren Äste sich unter reifen, saftigen Früchten biegen. Ich bleibe still liegen, nehme das alles in mich auf und habe unwillkürlich das Gefühl, dass ich schon einmal hier war.

»Ever.«

Ich springe auf, angespannt und kampfbereit. Und als ich sehe, dass es Damen ist, trete ich einen Schritt zurück, weil ich keine Ahnung habe, auf wessen Seite er wirklich steht.

»Ever, ganz ruhig. Es ist alles okay.« Er nickt und lächelt, während er mir die Hand hinstreckt.

Doch ich ergreife sie nicht; ich weigere mich, seinen Köder zu schlucken. Also mache ich noch einen Schritt rückwärts, während meine Augen nach Drina suchen.

»Sie ist nicht hier.« Wieder nickt er, den Blick fest auf meine Augen gerichtet. »Du bist in Sicherheit, hier bin nur ich.«

Ich zögere und überlege, ob ich ihm glauben soll oder nicht, zweifle daran, dass man sich bei ihm jemals in Sicherheit wähnen könnte. Unverwandt starre ich ihn an, während ich meine Möglichkeiten abwäge (die zugegebenermaßen nicht eben zahlreich sind), bis ich endlich frage: »Wo sind wir?« Anstatt meiner eigentlichen Frage: Bin ich tot?

»Ich versichere dir, du bist nicht tot.« Er lacht, liest meine Gedanken. »Du bist im Sommerland.«

Ohne einen Schimmer des Begreifens sehe ich ihn an.

»Das ist eine Art - Welt zwischen den Welten. So etwas wie ein Wartezimmer. Oder eine Raststätte. Eine Dimension zwischen den Dimensionen, wenn man so will.«

»Dimensionen?« Ich blinzele, das Wort klingt fremdartig, unvertraut, zumindest so, wie er es verwendet. Und als er nach meiner Hand greift, ziehe ich sie rasch weg, weil ich weiß, dass es unmöglich ist, irgendetwas klar zu sehen, wenn er mich berührt.

Er sieht mich an, dann zuckt er die Achseln und bedeutet mir mit einer Geste, ihm über die Wiese zu folgen, wo sich jede Blume, jeder Baum, jeder einzelne Grashalm biegt und wölbt und dreht wie Partner in einem endlosen Tanz.

»Mach die Augen zu«, flüstert er. Und als ich es nicht tue, fügt er hinzu: »Bitte.« Ich mache sie zu. Halb.

»Vertrau mir.« Er seufzt. »Nur dieses eine Mal.« Also tue ich es. »Was jetzt?« »Jetzt stell dir irgendetwas vor.«

»Wie meinst du das?«, frage ich und stelle mir augenblicklich einen riesigen Elefanten vor.

»Stell dir was anderes vor«, drängt er. »Schnell.«

Ich reiße die Augen auf und sehe erschrocken, wie ein ungeheurer Elefant direkt auf uns losstürmt, dann schnappe ich vor Verblüffung nach Luft, als ich ihn in einen Schmetterling verwandele - in einen wunderschönen Monarchfalter, der direkt auf meiner Fingerspitze landet. »Wie ...?«Ich schaue zwischen Damen und dem Schmetterling hin und her, dessen schwarze Fühler sich mir zuckend entgegenstrecken.

Damen lacht. »Willst du's noch mal versuchen?«

Ich presse die Lippen zusammen und sehe ihn an, versuche, mir etwas Gutes auszudenken, etwas Besseres als einen Elefanten oder einen Schmetterling.

»Na los«, drängt er. »Das macht solchen Spaß. Es wird nie langweilig.«

Ich schließe die Augen und stelle mir vor, dass sich der Schmetterling in einen Vogel verwandelt, und als ich die Augen öffne, sitzt ein bunter, majestätischer Ära auf meinem Finger. Doch als ein ekliger Streifen Vogeldreck an meinem Arm entlangtrieft, reicht Damen mir ein Handtuch und meint: »Wie wär's mit etwas mit etwas weniger - Reinigungsbedarf?«

Ich setze den Vogel ab und sehe zu, wie er davonfliegt, dann schließe ich die Augen, wünsche mit aller Kraft, und als ich sie wieder öffne, hat Orlando Bloom den Platz des Aras eingenommen.

Damen stöhnt auf und schüttelt den Kopf.

»Ist der echt?«, flüstere ich und sehe voller Staunen, wie Orlando Bloom lächelt und mir zuzwinkert.

Damen schüttelt den Kopf. »Man kann keine echten Menschen manifestieren, nur ihre Abbilder. Zum Glück wird's nicht sehr lange dauern, bis er vergeht.«

Und als Orlando genau das tut, bin ich doch ein bisschen traurig.

»Was ist los?«, frage ich und sehe Damen an. »Wo sind wir? Und wie ist das überhaupt möglich?«

Damen lächelt und lässt einen wunderschönen Schimmelhengst erscheinen. Nachdem er mich hinaufgehoben hat, macht er noch einen Rappen für sich selbst. »Lass uns ausreiten«, sagt er.

Wir reiten nebeneinander, einen schönen, gepflegten Weg entlang, mitten durch ein Tal voller Blumen und Bäume und mit einem Bach, der in allen Regenbogenfarben funkelt. Als ich meinen Papagei neben einer Katze hocken sehe, biege ich vom Weg ab, um ihn aufzuscheuchen, doch Damen packt den Zügel. »Keine Angst. Es gibt keine Feinde. Hier herrscht überall Frieden.«

Schweigend reiten wir weiter, während ich die Schönheit bestaune, die mich umgibt, und mich bemühe, das alles in mich aufzunehmen, obwohl es nicht lange dauert, bis mir der Kopf vor allen möglichen Fragen zu schwirren beginnt. Und ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll.

»Der Schleier, den du gesehen hast? Der dich angezogen hat?« Er sieht mich an. »Den habe ich dort hingehängt.«

»In dem Canyon?«

Er nickt. »Und in deinem Traum.«

»Aber Drina sagt, sie hat den Traum erschaffen.« Ich sehe ihn an, sehe, mit welchem Selbstvertrauen er reitet, wie sicher er im Sattel sitzt. Und das Bild an seiner Wand fällt mir wieder ein, das, auf dem er auf einem weißen Hengst sitzt, den Degen an der Seite, und im Stillen denke ich mir, dass er wohl schon länger reitet.

»Drina hat dir den Ort gezeigt, ich den Ausgang.«

»Ausgang?«, wiederhole ich, und mein Herz fängt von Neuem an zu pochen.

Lächelnd schüttelt er den Kopf. »Nicht so einen Ausgang. Ich hab's dir doch schon gesagt, du bist nicht tot. Tatsächlich bist du lebendiger als je zuvor. Du bist in der Lage, Materie zu manipulieren und alles zu manifestieren, was du willst. Der absolute Gipfel sofortiger Erfüllung.« Er lacht. »Aber komm nicht zu oft hierher. Denn ich warne dich, man wird süchtig danach.«

»Dann habt ihr also beide meine Träume erschaffen?«, frage ich und mustere ihn mit zusammengekniffenen Augen, während ich versuche, all diese bizarren Ereignisse zu begreifen. »Wie ... wie bei einer Gemeinschaftsarbeit?«

Er nickt.

»Ich habe also noch nicht mal meine eigenen Träume unter Kontrolle?« Meine Stimme wird lauter, das alles gefällt mir überhaupt nicht.

»Diesen speziellen Traum nicht, nein.«

Böse funkele ich ihn an, während ich erwidere: »Also, entschuldige, aber findest du das nicht ein bisschen aufdringlich? Ich meine, o Mann! Und warum hast du nicht versucht, das Ganze zu verhindern, wenn du gewusst hast, dass es passieren wird?«

Er sieht mich an; seine Augen sind müde und traurig. »Ich wusste nicht, dass es Drina war. Ich habe nur deine Träume beobachtet. Irgendetwas hat dir Angst gemacht, also habe ich dir den Weg hierher gezeigt. Hier ist es immer sicher.«

»Und warum ist Drina mir dann nicht gefolgt?« Wieder blicke ich mich nach ihr um.

Er greift nach meiner Hand und drückt meine Finger. »Weil Drina es nicht sehen kann, nur du kannst es sehen.«

Blinzelnd sehe ich ihn an. Das ist alles so seltsam, so merkwürdig, und nichts davon ergibt einen Sinn.

»Keine Angst, du wirst es schon verstehen. Aber warum versuchst du fürs Erste nicht einfach, es zu genießen?«

»Warum kommt mir das hier alles so vertraut vor?«, frage ich; ich spüre das leise Rumoren des Wiedererkennens, kann es aber nicht einordnen.

»Weil ich dich hier gefunden habe.«

Ich schaue ihn an.

»Ich habe deinen Körper neben dem Wagen gefunden, das stimmt. Aber deine Seele war schon weitergezogen und hat hier noch gezögert.« Er hält beide Pferde an und hilft mir beim Absteigen, dann führt er mich zu einem Grasflecken, der in dem warmen Licht, das von nirgendwoher zu kommen scheint, strahlt und funkelt, und ehe ich es mich versehe, hat er ein großes, gemütliches Sofa manifestiert, mitsamt einer Ottomane für unsere Füße.

»Möchtest du noch was hinzufügen?« Er lächelt.

Ich schließe die Augen und stelle mir einen Couchtisch vor, ein paar Lampen, noch ein bisschen Nippes und einen hübschen Perserteppich, und als ich die Augen wieder öffne, stehen wir in einem komplett eingerichteten Freilicht-Wohnzimmer.

»Was passiert, wenn es regnet?«, will ich wissen.

»Nicht -«

Aber es ist zu spät, wir sind schon nass bis auf die Haut.

»Gedanken erschaffen«, erklärt er und lässt einen riesigen Regenschirm entstehen; der Regen pladdert stetig von dem Schirm auf den Teppich. »Auf der Erde ist es genauso, es dauert nur länger. Hier im Sommerland geschieht es augenblicklich.«

»Das erinnert mich daran, was meine Mom immer gesagt hat. Pass auf, was du dir wünschst, es könnte in Erfüllung gehen!« Ich lache.

Damen nickt. »Jetzt weißt du, wo das herkommt. Könntest du vielleicht dafür sorgen, dass dieser Regen aufhört?« »Wie ...?«

»Denk einfach an irgendwas, wo es warm und trocken ist.«

Und schon liegen wir auf einem wunderschönen Strand mit rosigem Sand.

»Lassen wir's so, ja?« Er lacht, während ich uns noch ein flauschiges blaues Handtuch und einen dazu passenden türkisgrünen Ozean herbeimanifestiere.

Und als ich mich ausstrecke und in der Wärme die Augen schließe, bestätigt er es. Nicht dass ich nicht allmählich selbst darauf gekommen wäre, aber ich habe es noch immer nicht in einem ganzen Satz ausgesprochen.

Einem Satz, der mit »Ich bin unsterblich« anfängt.

Und mit »Und du auch« endet.

So etwas hört man nicht alle Tage.

»Wir sind also beide Unsterbliche?« Ich öffne ein Auge, um zu ihm hinüberzuschielen, während ich mich frage, wie ich ein solches Gespräch in einem so völlig normalen Tonfall führen kann. Aber ich befinde mich ja auch im Sommerland, und bizarrer geht's nicht.

Er nickt.

»Und du hast mich zu einer Unsterblichen gemacht, als ich bei dem Autounfall gestorben bin?« Er nickt abermals.

»Aber wie? Hat das was mit diesem komischen roten Zeug zu tun, das du trinkst?«

Er holt tief Luft, bevor er antwortet. »Ja.«

»Wieso muss ich das nicht andauernd trinken, so wie du?«

Er wendet den Blick ab und schaut aufs Meer hinaus. »Irgendwann wirst du das auch müssen.«

Ich setze mich auf und zupfe an einem losen Faden an meinem Handtuch herum; es gelingt mir noch immer nicht, das hier wirklich zu begreifen. Ich muss an eine Zeit denken, die noch gar nicht lange zurückliegt, eine Zeit, als ich dachte, Hellsehen zu können sei ein Fluch, und jetzt sehe sich einer das an.

»Es ist gar nicht so schlimm, wie du denkst«, sagt er und legt die Hand auf meine. »Schau dich doch um, besser geht's doch nicht.«

»Aber warum? Ich meine, ist dir jemals der Gedanke gekommen, dass ich vielleicht gar nicht unsterblich sein möchte? Dass du mich vielleicht einfach hättest gehen lassen sollen?«

Ich sehe, wie er sich krümmt, wie er wegschaut, wie er alles Mögliche ansieht, nur nicht mich. Dann wendet er sich mir doch zu und sagt: »Zuallererst, du hast Recht. Ich war egoistisch. Denn die Wahrheit ist, ich habe dich mehr meinet- als deinetwegen gerettet. Ich konnte es nicht ertragen, dich wieder zu verlieren, nicht nachdem ...« Er hält inne und schüttelt den Kopf. »Trotzdem, ich wusste nicht genau, ob es funktioniert hatte. Natürlich war mir klar, dass ich dich zurückgeholt hatte, aber ich wusste nicht genau, für wie lange. Ich war mir nicht sicher, dass ich dich wirklich verwandelt hatte, bis ich dich vorhin im Canyon gesehen habe -«

»Du hast mich in dem Canyon beobachtet?« Ungläubig starre ich ihn an.

Er nickt.

»Du meinst, du warst dabei?«

»Nein, ich habe dir aus der Ferne zugesehen.« Er reibt sich das Kinn. »Da wäre eine Menge zu erklären.«

»Also, lass mich das mal klarstellen. Du hast zugesehen, aus der Ferne, aber trotzdem, du hast alles sehen können, was da gelaufen ist, und du hast nicht versucht, mich zu retten?« Und als ich das laut sage, bin ich so wütend, dass ich kaum atmen kann.

Er schüttelt den Kopf. »Erst als du gerettet werden wolltest. Da habe ich den Schleier erscheinen lassen und dich dazu gedrängt, darauf zuzulaufen.«

»Du meinst, du warst drauf und dran, mich sterben zu lassen?« Ich rutsche von ihm fort; ich will nicht in seiner Nähe sein.

Er sieht mich mit vollkommen ernstem Gesicht an. »Wenn es das gewesen wäre, was du gewollt hättest, dann ja.« Er schüttelt den Kopf. »Ever, als wir das letzte Mal miteinander geredet haben, auf dem Parkplatz, da hast du gesagt, du würdest mich hassen, für das, was ich getan habe. Dafür, dass ich so egoistisch war, dass ich dich von deiner Familie getrennt habe, dass ich dich zurückgeholt habe. Und obwohl deine Worte wirklich wehgetan haben, wusste ich trotzdem, dass du Recht hattest. Es stand mir nicht zu, mich einzumischen. Aber dann, im Canyon, als du dein Inneres mit solcher Liebe gefüllt hast, na ja, diese Liebe war es, die dich gerettet hat, die dich wiederhergestellt hat, und da wusste ich es.«

Aber was ist mit dem Krankenhaus? Wieso konnte ich mich damals nicht wiederherstellen? Warum musste ich all die Gipsverbände und die Platzwunden und die Gehirnerschütterung ertragen? Warum konnte ich mich nicht einfach ... regenerieren, so wie in dem Canyon?, denke ich im Stillen und verschränke die Arme vor der Brust. So ganz kaufe ich ihm das nicht ab.

»Nur Liebe heilt. Wut, Schuldgefühle und Angst können nur zerstören und dir den Zugang zu deinen wahren Fähigkeiten versperren.« Seine Augen mustern mich eingehend.

»Und noch was.« Ich sehe ihn finster an. »Deine Fähigkeit, meine Gedanken zu lesen, wenn ich das bei dir nicht kann. Das ist nicht fair.«

Er lacht. »Möchtest du wirklich meine Gedanken lesen? Ich dachte, meine geheimnisvolle Art ist eines der Dinge, die dir an mir gefallen?«

Ich starre auf meine Knie, und meine Wangen glühen, als ich mich an all die peinlichen Gedanken erinnere, die ihm zugänglich waren.

»Weißt du, es gibt Möglichkeiten, sich abzuschirmen. Vielleicht solltest du mal zu Ava gehen.«

»Du kennst Ava?« Ich starre ihn an und habe plötzlich das Gefühl, dass sich hier alle gegen mich verschworen haben.

Er schüttelt den Kopf. »Meine einzige Verbindung zu Ava besteht durch dich, durch deine Gedanken über Ava.«

Ich schaue weg und sehe zu, wie eine Kaninchenfamilie vorbeihoppelt. Dann drehe ich mich wieder zu ihm um.

»Und die Rennbahn?«

»Vorahnung, hast du doch auch gemacht.«

»Was ist mit dem Rennen, bei dem du verloren hast?«

Er lacht. »Ein paar Mal muss ich doch verlieren, sonst werden die Leute misstrauisch. Aber ich hab's auf jeden Fall wieder wettgemacht, meinst du nicht?«

»Und die Tulpen?«

Er lächelt. »Manifestiert. So wie du den Elefanten gemacht hast und diesen Strand. Ist ganz simple Quantenphysik. Bewusstsein bringt Materie ins Sein, wo vorher lediglich Energie war. Nicht mal annähernd so schwer, wie die Leute gern glauben wollen.«

Ich blinzele, so ganz kapiere ich das nicht. Ganz gleich, wie simpel er das alles findet.

»Wir erschaffen unsere eigene Realität. Und, ja, das kannst du auch zuhause machen«, fügt er hinzu und nimmt meine nächste Frage vorweg, die, die gerade in meinem Kopf Gestalt angenommen hat. »Tatsächlich tust du das auch schon, es ist dir bloß nicht bewusst, weil es so viel länger dauert.«

»Bei dir dauert es nicht länger?«

Er lacht. »Ich bin schon eine ganze Weile zugange; ich hatte reichlich Zeit, mir ein paar Tricks anzueignen.«

»Wie lange?«, frage ich und sehe ihn an; dieses Zimmer in seinem Haus fällt mir wieder ein, und ich frage mich, womit genau ich es hier zu tun habe.

Er seufzt und wendet den Blick ab. »Sehr lange.«

»Und jetzt werde ich auch ewig leben?«

»Das liegt bei dir.« Er zuckt die Achseln. »Du brauchst nichts von alldem zu tun. Du kannst dir das Ganze auch einfach aus dem Kopf schlagen und dein Leben weiterführen. Beschließen, loszulassen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Ich habe dir nur die Fähigkeit verliehen, aber die Entscheidung liegt immer noch bei dir.«

Ich starre aufs Meer hinaus, das Wasser funkelt so grell, so wunderschön, dass ich kaum glauben kann, dass es meinetwegen existiert. Und obwohl es Spaß macht, mit derart mächtiger Magie herumzuspielen, wenden sich meine Gedanken bald finstereren Dingen zu. »Ich muss wissen, was damals mit Haven war. An dem Tag, als ich dich dabei überrascht habe ...« Unwillkürlich verziehe ich bei der Erinnerung das Gesicht. »Und was ist mit Drina? Sie ist auch eine Unsterbliche, stimmt's? Hast du sie zu einer gemacht? Und wie hat das alles angefangen? Wie bist du überhaupt erst unsterblich geworden? Wie passiert so was? Hast du gewusst, dass sie Evangeline umgebracht hat und beinahe auch Haven? Und was soll das mit diesem gruseligen Zimmer?«

»Kannst du die Frage noch mal wiederholen?« Er lacht.

»Ach ja, und noch was, was zum Teufel hat Drina damit gemeint, als sie gesagt hat, sie hätte mich wieder und wieder umgebracht?«

»Das hat Drina gesagt?« Damens Augen werden riesengroß, während jegliche Farbe aus seinem Gesicht weicht.

»Ja.« Ich nicke und muss an ihre selbstgefällige, hochmütige Miene denken, als sie mir das mitgeteilt hat. »Die ganze Zeit hat sie getönt >jetzt geht das schon wieder los, du blöde Sterbliche, du fällst immer wieder darauf rein, bla, bla, bla.< Ich dachte, du hättest zugeschaut, ich dachte, du hättest alles gesehen?«

Er schüttelt den Kopf und murmelt undeutlich: »Ich habe nicht alles gesehen, ich habe mich erst später eingeklinkt. O Gott, Ever, das ist alles meine Schuld, alles. Ich hätte dich nie da reinziehen dürfen, ich hätte dich in Ruhe lassen sollen -«

»Außerdem hat sie gesagt, sie hätte dich in New York gesehen. Oder zumindest hat sie das Haven erzählt.«

»Sie hat gelogen«, knurrt er. »Ich war nicht in New York.« Und als er mich ansieht, liegt ein solcher Schmerz in seinen Augen, dass ich nach seiner Hand greife und sie festhalte. Es erschüttert mich, wie traurig und verletzlich er aussieht, und ich will diesen Blick einfach nur auslöschen. Ich drücke die Lippen auf seinen warmen, wartenden Mund und hoffe, ihm so zu vermitteln, dass es sehr gut möglich ist, dass ich ihm verzeihe, ganz gleich, um was es geht.

»Der Kuss wird mit jeder Inkarnation schöner.« Er seufzt, richtet sich auf und streicht mir das Haar aus dem Gesicht. »Obwohl wir anscheinend nie weiter kommen als bis dahin. Und jetzt weiß ich auch, warum.« Er drückt die Stirn gegen meine und erfüllt mich mit solcher Freude, mit solcher allumfassenden Liebe, dann seufzt er tief, bevor er sich von mir löst. »Ach ja, deine Frage«, meint er und liest wieder meine Gedanken. »Wo soll ich anfangen?«

»Wie war's mit ganz am Anfang?«

Er nickt, und sein Blick schweift ab, gleitet in die Vergangenheit, während ich es mir mit gekreuzten Beinen bequem mache. »Mein Vater war ein Träumer, ein Künstler, er hat sich mit den Wissenschaften und mit Alchemie beschäftigt, das war in dieser Zeit eine populäre Idee -«

»In welcher Zeit?«, erkundige ich mich, ganz ausgehungert nach Orten, nach Daten, nach Dingen, die man festmachen und recherchieren kann, nicht irgendeiner Litanei abstrakter philosophischer Vorstellungen.

»Vor langer Zeit.« Er lacht. »Ein bisschen älter als du bin ich schon.«

»Ja, aber wie alt genau? Ich meine, mit was für einem Altersunterschied muss ich mich hier auseinandersetzen?«, will ich wissen und sehe ungläubig, wie er den Kopf schüttelt.

»Du musst nur wissen, dass mein Vater, genau wie die anderen Alchemisten, geglaubt hat, dass sich alles auf ein einziges Element reduzieren ließe und dass sich, wenn man dieses eine Element isolieren könnte, alles daraus erschaffen ließe. An dieser Theorie hat er jahrelang gearbeitet, hat Formeln erstellt und wieder fallengelassen, und dann, als er und meine Mutter ... ums Leben gekommen sind, habe ich die Suche fortgeführt, bis ich es schließlich vollendet habe.«

»Und wie alt warst du da?«, versuche ich es von Neuem.

»Jung.« Er zuckt mit den Schultern. »Ziemlich jung.«

»Dann kannst du also trotzdem altern?«

Er lacht. »Ja, ich habe einen bestimmten Punkt erreicht, und dann hat es einfach aufgehört. Ich weiß, die Theorie vom alterslosen Vampir ist dir lieber, aber das hier ist das richtige Leben, Ever, keine Fantasy-Geschichte.«

»Okay, also?«, dränge ich, begierig, mehr zu erfahren.

»Also, meine Eltern sind umgekommen, und ich war verwaist. Weißt du, in Italien, wo ich herkomme, da stehen Nachnamen oft für die Herkunft der Leute oder für ihren Beruf. Eposito heißt Findelkind oder ausgesetzt. Der Name ist mir gegeben worden, allerdings habe ich ihn vor einem oder zwei Jahrhunderten abgelegt, weil er nicht mehr passt.«

»Warum hast du nicht deinen richtigen Nachnamen benutzt?«

»Das ist ziemlich kompliziert. Meinem Vater wurde ... nachgestellt. Deshalb habe ich gedacht, es wäre besser, mich zu distanzieren.«

»Und Drina?«, frage ich, und meine Kehle zieht sich schon zusammen, wenn ich nur ihren Namen ausspreche.

Er nickt. »Poverina heißt arme Kleine. Wir waren Schützlinge der Kirche, da haben wir uns kennen gelernt. Und als sie krank wurde, konnte ich es nicht ertragen, sie auch noch zu verlieren, also habe ich ihr davon zu trinken gegeben.«

»Sie hat gesagt, ihr wart verheiratet.« Ich presse die Lippen zusammen, und meine Kehle fühlt sich heiß und eng an; ich weiß, dass sie das eigentlich nicht gesagt hat, obgleich sie es definitiv angedeutet hat, als sie ihren Namen genannt hat, ihren vollen Namen.

Kopfschüttelnd kneift er die Augen zusammen und schaut weg, während er etwas vor sich hinmurmelt.

»Stimmt das?«, frage ich. Mein Magen hat sich völlig verkrampft, und das Herz drückt mir hart gegen die Rippen.

Er nickt. »Aber es ist beileibe nicht so, wie du denkst; das ist vor so langer Zeit passiert, dass es kaum noch eine Rolle spielt.«

»Warum hast du dich dann nicht scheiden lassen? Ich meine, wenn es kaum noch eine Rolle spielt?«, will ich wissen; meine Wangen sind heiß, und meine Augen brennen.

»Dann schlägst du also vor, dass ich mit einer Heiratsurkunde, die mehrere Jahrhunderte alt ist, vor Gericht auftreten und eine Scheidung verlangen soll?«

Ich presse die Lippen zusammen und schaue weg. Mir ist ja klar, dass er Recht hat, aber trotzdem!

»Ever, bitte. Du musst ein bisschen Nachsicht mit mir haben. Ich bin nicht wie du. Du bist erst seit siebzehn Jahren dabei, na ja, jedenfalls in diesem Leben, und ich habe hunderte hinter mir! Mehr als genug Zeit, um ein paar Fehler zu machen. Obwohl es sicher eine Menge Dinge gibt, nach denen man mich beurteilen kann, glaube ich kaum, dass meine Beziehung zu Drina dazugehört. Damals war es anders. Ich war anders. Ich war eitel, oberflächlich und extrem materialistisch. Ich war nur auf mein eigenes Wohl bedacht, habe mir genommen, was ich kriegen konnte. Aber in dem Augenblick, als ich dir begegnet bin, hat sich alles verändert, und als ich dich verloren habe, nun ja, ich habe noch nie derart qualvollen Schmerz erlebt. Später jedoch, als du wieder aufgetaucht bist...« Er hält inne, und sein Blick geht in weite Ferne. »Nun, kaum hatte ich dich gefunden, da habe ich dich schon wieder verloren. Und so ging es fort, immer wieder und wieder. Ein endloser Zyklus aus Liebe und Verlust - bis jetzt.«

»Dann werden wir also ... wiedergeboren?« Das Wort klingt fremdartig auf meiner Zunge.

»Du schon - ich nicht. Ich bin immer da, bin immer derselbe.«

»Und wer war ich dann?«, frage ich. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das wirklich glaube, doch die Vorstellung fasziniert mich. »Und wieso kann ich mich nicht daran erinnern?«

Er lächelt, erfreut, das Thema zu wechseln. »Zur Rückkehr gehört eine Fahrt auf dem Fluss des Vergessens. Du sollst dich nicht erinnern, du bist hier, um zu lernen, um dich fortzuentwickeln, um deine karmischen Schulden zurückzuzahlen. Jedes Mal fängst du völlig neu an, bist gezwungen, deinen Weg selbst zu finden. Denn das Leben, Ever, ist nicht als Prüfung gedacht, bei der man im Buch nachschlagen darf.«

»Schummelst du dann nicht, wenn du immer hierbleibst?«, erkundige ich mich und grinse Mr. Ich-sage-dir-wie-die-Welt-funktioniert spöttisch an.

Er zuckt zusammen und schaut weg. »Manche Leute sehen das vielleicht so.«

»Und woher weißt du das alles überhaupt, wenn du es niemals selbst getan hast?«

»Ich hatte viele Jahre zur Verfügung, um die größten Mysterien des Lebens zu studieren. Und dabei bin ich einigen unglaublichen Lehrern begegnet. Über deine anderen Ichs brauchst du nur zu wissen, dass du immer weiblich warst.« Er lächelt und streicht mir das Haar hinters Ohr. »Immer sehr schön. Und immer wichtig für mich.«

Ich starre aufs Meer hinaus und manifestiere ein paar Wellen, einfach so zum Spaß, dann lasse ich alles verschwinden. Alles. Ganz und gar. Befördere uns wieder in unser Freiluft-Wohnzimmer.

»Tapetenwechsel?« Er lächelt.

»Ja, aber hier wechselt nur die Tapete, nicht das Thema.«

Damen seufzt. »Also habe ich dich nach Jahren des Suchens wiedergefunden - und den Rest weißt du ja.«

Ich hole tief Luft und starre die Lampe an, knipse sie mit meinen Gedanken an und aus, an und aus, und versuche, alldem einigermaßen Herr zu werden.

»Ich habe vor langer Zeit mit Drina gebrochen, aber sie hat diese grässliche Angewohnheit, andauernd wieder aufzutauchen. Und der Abend im St. Regis? Als du uns zusammen gesehen hast? Ich habe versucht, sie zu überreden, ein für alle Mal weiterzuziehen. Allerdings hat das offensichtlich nicht ganz geklappt. Und, ja, ich weiß, dass sie Evangeline getötet hat, denn weißt du noch, damals am Strand, als du allein aufgewacht bist?«

Meine Augen werden schmal. Ich hab's doch gewusst, denke ich. Ich hob doch gewusst, dass er nicht surfen war!

»Ich hatte gerade ihren Leichnam gefunden, doch es war zu spät, um sie zu retten. Und ja, das mit Haven weiß ich auch, obwohl ich ihr zum Glück noch helfen konnte.«

»Da warst du also in der Nacht damals - als du gesagt hast, du wolltest nur einen Schluck Wasser trinken ...«

Er nickt.

»Worüber hast du mich sonst noch angelogen?«, frage ich und verschränke die Arme vor der Brust. »Und wo bist du an Halloween hingefahren, nachdem du von meiner Party weg bist?«

»Ich bin nach Hause gegangen«, antwortet er und sieht mich unverwandt an. »Als ich bemerkt habe, wie Drina dich angesehen hat, na ja, ich dachte, es ist besser, ich gehe auf Distanz. Aber ich konnte nicht. Ich hab's versucht. Ich hab's die ganze Zeit versucht. Aber ich konnte einfach nicht. Ich kann mich nicht von dir fernhalten.« Er schüttelt den Kopf. »Und jetzt weißt du alles. Allerdings ist es wohl klar, warum ich damals nicht aufrichtig sein konnte.«

Achselzuckend schaue ich weg, nicht gewillt, so einfach nachzugeben, obwohl ich weiß, dass das stimmt.

»Oh, und mein gruseliges Zimmer, wie du es nennst? Na ja, das ist zufällig meine innere Zuflucht. Gar nicht so verschieden von diesen letzten glückseligen Momenten damals mit deiner Familie im Auto.« Und als er mich ansieht, wende ich den Blick ab; ich schäme mich dafür, dass ich das gesagt habe. »Obwohl ich ja zugeben muss, ich habe wirklich gelacht, als mir klar wurde, dass du mich für einen Blutsauger hältst.«

»Oh, na ja, entschuldige vielmals. Ich meine, wo hier schon mal Unsterbliche herumrennen, da denke ich, wir können doch gleich noch die Feen auflaufen lassen, die Zauberer, Werwölfe und ...«Ich schüttele den Kopf. »Ich meine, Mann, du redest von all dem Kram, als wäre das völlig normal!«

Seufzend schließt er die Augen. Und als er sie wieder öffnet, sagt er: »Für mich ist das normal. Das ist mein Leben. Und jetzt ist es auch deins, wenn du dich dafür entscheidest. Es ist nicht so schlimm, wie du denkst, Ever, wirklich.« Er sieht mich lange an, und obwohl ein Teil von mir ihn immer noch dafür hassen will, dass er mich zu dem gemacht hat, was ich jetzt bin, bringe ich es einfach nicht fertig. Ich spüre diese überwältigend warme, kribbelnde Anziehungskraft und schaue auf meine Hand, die er in der seinen hält, und sage: »Hör auf.«

»Womit?« Er sieht mich an; seine Augen sind müde, die Haut um sie herum ist blass und straff gespannt.

»Hör auf, zu machen, dass ich mich so warm und kribbelig fühle, du weißt schon. Hör einfach auf damit!«, beharre ich; mein Verstand ist zwischen Liebe und Hass hin und her gerissen.

»Das bin ich nicht, Ever.« Seine Augen halten meine fest.

»Natürlich bist du das! Du machst das mit deiner ... mit irgendwas eben.« Ich rolle die Augen, verschränke die Arme vor der Brust und frage mich, wie wir jetzt wohl weitermachen.

»Das manifestiere ich nicht. Ich schwör's. Ich habe nie irgendwelche Tricks angewandt, um dich zu verführen.«

»Ach ja, und was ist mit den Tulpen?«

Er lächelt. »Du hast keine Ahnung, was die bedeuten, nicht wahr?«

Ich presse die Lippen aufeinander und schaue weg.

»Blumen habe eine Bedeutung. Daran ist nichts Beliebiges.«

Ich atme tief durch und stelle mit meiner Gedankenkraft die Sachen auf dem Tisch um; dabei wünsche ich mir, ich könnte stattdessen meine Gedanken neu sortieren.

»Es gibt so viel, was ich dich lehren muss«, sagt er. »Allerdings macht nicht alles davon Spaß. Du musst dich vorsehen, musst sehr behutsam vorgehen.« Er hält inne und sieht mich an, vergewissert sich, dass ich auch zuhöre. »Du musst dich vor dem Missbrauch dieser Macht in Acht nehmen; Drina ist ein gutes Beispiel dafür. Und du musst diskret sein - was bedeutet, dass du niemandem hiervon erzählen kannst, und ich meine wirklich niemandem, verstehst du?«

Ich zucke lediglich die Achseln und denke Ja, ja. Und weiß, dass er meine Gedanken gelesen hat, als er den Kopf schüttelt und sich zu mir herüberbeugt.

»Ever, ich meine es ernst, du darfst es keinem Menschen erzählen. Versprich es mir.«

Ich sehe ihn an.

Er zieht die Brauen hoch, und seine Hand drückt meine. »Großes Pfadfinderehrenwort«, murmele ich und schaue weg.

Er lässt meine Hand los und entspannt sich. Dann lehnt er sich wieder in die Sofakissen zurück und sagt: »Aber um ganz ehrlich zu sein, du musst wissen, dass es immer noch einen Ausweg gibt. Du kannst immer noch übertreten. Du hättest sogar direkt da in dem Canyon sterben können, doch du hast dich dafür entschieden zu bleiben.«

»Aber ich war darauf gefasst zu sterben, ich wollte sterben.«

»Du hast dir selbst durch deine Erinnerungen Kräfte verliehen. Du hast dir durch Liebe Kräfte verliehen. Wie ich vorhin gesagt habe - Gedanken erschaffen. Und in deinem Fall haben sie Heilung und Stärke geschaffen. Wenn du wirklich hättest sterben wollen, dann hättest du einfach aufgegeben. Auf irgendeiner tieferen Ebene musst du das auch gewusst haben.«

Gerade als ich ihn fragen will, warum er sich in mein Zimmer geschlichen hat, während ich geschlafen habe, sagt er: »Es war nicht so, wie du denkst.«

»Und wie war's dann?«, frage ich und überlege, ob ich das wirklich wissen will.

»Ich war dort, um zu ... beobachten. Es hat mich überrascht, dass du mich sehen konntest, ich war sozusagen umgewandelt.«

Ich schlinge die Arme um meine Knie und ziehe sie eng an die Brust. Alles, was er eben gesagt hat, ist viel zu hoch für mich, aber ich habe genug vom Wesendichen begriffen, um es angemessen mit der Angst zu bekommen.

»Ever, ich fühle mich verantwortlich für dich, und -«

»Und du wolltest dir mal die Ware ansehen?« Mit hochgezogenen Augenbrauen schaue ich ihn an.

Doch er lacht nur. »Darf ich dich an deine Vorliebe für Flanell-Schlafanzüge erinnern?«

Ich verdrehe die Augen. »Du fühlst dich also verantwortlich für mich, wie ... wie ein Vater?« Ich lache laut heraus, als er zusammenzuckt.

»Nein, nicht wie ein Vater. Aber, Ever, ich war nur das eine Mal in deinem Zimmer, in der Nacht, nachdem wir uns im St. Regis begegnet sind. Wenn es noch andere Male gegeben hat, dann ...«

»Drina.« Ich krümme mich zusammen und stelle mir vor, wie sie in meinem Zimmer herumschleicht und mich beobachtet. »Bist du sicher, dass sie nicht hierherkommen kann?«, will ich wissen und blicke mich um.

Er nimmt meine Hand und drückt sie, will mich beruhigen. »Sie weiß nicht mal, dass das Sommerland existiert. Weiß nicht, wie man hierhergelangt. Soweit es sie betrifft, hast du dich einfach in Luft aufgelöst.«

»Aber wie bist du hierhergekommen? Bist du auch mal gestorben, so wie ich?«

Er schüttelt den Kopf. »Es gibt zwei Arten von Alchemie - eine physische, auf die ich zufällig durch meinen Vater gestoßen bin, und eine spirituelle, auf die ich verfallen bin, als ich gespürt habe, dass es mehr gibt, etwas Größeres, etwas Gewaltigeres als mich. Ich habe studiert und geübt und hart gearbeitet, um hierher zu gelangen, ich habe sogar TM gelernt.« Er hält inne und sieht mich an. »Transzendentale Meditation, von Maharishi Mahesh Yogi.« Er lächelt.

»Ah, also wenn du mich beeindrucken willst, das funktioniert nicht wirklich. Ich habe keinen Schimmer, was das alles bedeutet.«

Damen zuckt die Achseln. »Sagen wir einfach, es hat hunderte von Jahren gedauert, bis ich die Übertragung vom Mentalen ins Physische geschafft habe. Aber du - von dem Augenblick an, als du über die Wiese gewandert bist, hattest du eine Art Backstage-Pass; deine Visionen und deine telepathischen Fähigkeiten waren Nebenwirkungen dieser Tatsache.«

»Mein Gott, kein Wunder, dass du die Highschool zum Kotzen findest«, bemerke ich; ich will das Thema wechseln, will das Gespräch auf etwas Konkretes bringen, etwas, das ich verstehen kann. »Ich meine, du musst doch vor, ich weiß nicht, vor x Jahren deinen Abschluss gemacht haben, richtig?« Und als er sich unbehaglich krümmt, wird mir klar, dass sein Alter eine heikle Angelegenheit ist. Was eigentlich ziemlich komisch ist, wenn man bedenkt, dass er sich dafür entschieden hat, ewig zu leben. »Ich meine, warum machst du dir die Mühe? Warum hast du dich überhaupt angemeldet?«

»Da kommst du jetzt ins Spiel.« Damen lächelt.

»Ach, du siehst also irgendein Mädchen in schlabbrigen Jeans und Kapuzensweatshirt, und du bist dermaßen scharf auf sie, dass du beschließt, die Highschool zu wiederholen, nur um sie zu kriegen?«

»Das kommt ungefähr hin.«

»Hättest du nicht eine andere Möglichkeit finden können, dich in mein Leben einzuschmeicheln? Das ergibt doch einfach keinen Sinn.« Kopfschüttelnd verdrehe ich die Augen und rege mich schon wieder auf, ehe er mir mit dem Finger über die Wange streicht und mir in die Augen sieht.

»Liebe ergibt niemals einen Sinn.«

Ich schlucke heftig, empfinde gleichzeitig Scheu, Euphorie und Unsicherheit. Dann räuspere ich mich. »Du hast doch gesagt, du bist nicht gut in der Liebe.« Mit zusammengekniffenen Augen sehe ich ihn an, und mein Magen fühlt sich an wie eine kalte, bittere Murmel. Ich frage mich, warum ich nicht einfach glücklich sein kann, wenn der umwerfendste Mann auf dem ganzen Planeten mir seine Liebe gesteht. Warum bestehe ich darauf, alles ins Negative zu ziehen?

»Ich hatte gehofft, diesmal wäre es anders«, flüstert er.

Ich wende mich ab; mein Atem geht in kurzen, flachen Stößen, als ich antworte: »Ich weiß nicht, ob ich alldem gewachsen bin. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Er zieht mich an seine Brust, die Arme fest um mich geschlungen. »Du kannst dir mit deiner Entscheidung ruhig Zeit lassen.« Und als ich mich umdrehe, liegt dieser Blick in seinen Augen, der weit in die Ferne geht.

»Was ist los?«, frage ich. »Warum schaust du mich so an?«

»Weil ich nicht gut im Abschiednehmen bin«, erwidert er und versucht ein Lächeln, das nicht weiter reicht als bis zu seinem Mund. »Siehst du, es gibt zwei Sachen, die ich nicht gut kann - Liebe und Abschiednehmen.«

»Vielleicht sind die ja miteinander verwandt.« Ich presse die Lippen aufeinander und ermahne mich streng, ja nicht zu heulen. »Und wo gehst du hin?« Mit aller Kraft bemühe ich mich, meine Stimme ruhig und neutral klingen zu lassen, obwohl mein Herz nicht schlagen und mein Atem nicht weiterströmen will und es sich anfühlt, als ob ich innerlich sterbe.

Er zuckt mit den Schultern und schaut weg. »Kommst du zurück?«

»Das liegt bei dir.« Dann sieht er mich an und fragt: »Ever, hasst du mich immer noch?«

Ich schüttele den Kopf, halte aber seinem Blick stand. »Liebst du mich?«

Ich drehe den Kopf weg. Ich weiß, dass ich ihn liebe, dass ich ihn mit jeder Haarsträhne, jeder Hautzelle, mit jedem Blutstropfen liebe, dass ich vor Liebe platze, überkoche, aber ich bringe es nicht über mich, es laut zu sagen. Aber wenn er wirklich meine Gedanken lesen kann, dann sollte ich es ja eigentlich nicht laut sagen müssen. Er sollte es einfach wissen.

»Es ist immer schöner, wenn es ausgesprochen wird«, meint er, streicht mir das Haar hinters Ohr und drückt die Lippen auf meine Wange. »Wenn du dich entschieden hast, meinetwegen und wegen der Unsterblichkeit, dann sag's einfach, und ich werde da sein. Ich habe die ganze Ewigkeit vor mir; du wirst sehen, dass ich ziemlich geduldig bin.« Er lächelt, dann greift er in die Tasche und zieht das Pferdetrensen-Armband mit den Kristallen hervor, das er mir auf der Rennbahn gekauft hat. Das ich ihm zurückgegeben habe, als ich es ihm damals auf dem Parkplatz vor die Füße geschmissen habe. »Darf ich?«

Ich nicke, meine Kehle ist zu eng, um zu sprechen, als er den Verschluss einschnappen lässt und dann mein Gesicht zwischen seine Hände nimmt. Er schiebt meinen Pony zur Seite, drückt die Lippen auf meine Narbe und erfüllt mich mit all der Liebe und der Vergebung, von der ich weiß, dass ich sie nicht verdiene. Doch als ich zurückweichen will, hält er mich nur noch fester und sagt: »Du musst dir verzeihen, Ever. Du bist für nichts von alldem verantwortlich.«

 

»Was weißt du schon?« Ich beiße mir auf die Lippe.

»Ich weiß, dass du dir selbst die Schuld für etwas gibst, für das du nichts kannst. Ich weiß, dass du deine kleine Schwester von ganzem Herzen liebst und dich jeden Tag fragst, ob du das Richtige tust, wenn du sie dazu ermunterst, dich zu besuchen. Ich kenne dich, Ever. Ich weiß alles über dich.«

Ich drehe mich weg, mein Gesicht ist tränennass, und ich will nicht, dass er es sieht. »Das stimmt doch alles nicht. Überhaupt nicht. Ich bin ein Freak, und jedem, der mir nahe kommt, passiert etwas Schlimmes, obwohl eigentlich ich diejenige bin, die es verdient hat.« Ich schüttelte den Kopf; ich weiß, dass ich es nicht verdiene, glücklich zu sein, dass ich diese Art von Liebe nicht verdiene.

Er zieht mich in seine Arme, und seine Berührung ist ruhig und tröstlich, doch sie kann die Wahrheit nicht auslöschen. »Ich muss gehen«, flüstert er endlich. »Aber, Ever, wenn du mich lieben willst, wenn du wirklich mit mir zusammen sein willst, dann musst du akzeptieren, was wir sind. Ich verstehe es, wenn du das nicht kannst.«

Und dann küsse ich ihn, drücke mich fest an ihn, brauche das Gefühl seiner Lippen auf den meinen, schwelge in dem wundervollen, warmen Leuchten seiner Liebe, und der Augenblick wächst und dehnt sich aus, bis er allen Raum ausfüllt, jede Nische, jeden Winkel.

Als ich die Augen öffne und mich von ihm löse, bin ich wieder in meinem Zimmer, ganz allein.